Von Angsttrieben und Wurzeln
Wenn Pflanzen in Stress geraten, weil z.B. mangels Licht nicht genügend Photosynthese stattfinden kann, bilden sie „Angsttriebe“ aus. Diese langen, dünnen Triebe sind nicht besonders stabil und auch nicht besonders effektiv. Manchmal helfen sie, eine kurze Krisenzeit zu überbrücken. Um langfristigen Wandel zu überstehen, taugen sie nichts.
Die christlichen Kirchen in der westlichen Welt befinden sich seit vielen Jahrzehnten in einem Wandel. Die Bindung an die kirchlichen Institutionen nimmt ab. In der letzten Zeit hat sich dieser Effekt insbesondere durch zwei Faktoren deutlich verstärkt: Zum einen hat das Image von „Religion“ überhaupt durch den islamistischen Missbrauch von Religion zur Legitimierung von Gewalt (Al Kaida und sog. Islamischer Staat) und auch durch sich christlich verstehende Gewalttäter (Attentat auf der norwegischen Insel Utoya und Attentat im neuseeländischen Christchurch) großen Schaden genommen. Zum anderen haben die Fälle von sexuellem Missbrauch und deren unzureichender Aufarbeitung in der evangelischen und in noch stärkerem Ausmaß in der katholischen Kirche Vertrauen zerstört.
In solchen Krisen lautet ein Rezept (gerne von evangelikaler Seite vorgebracht, aber auch kürzlich wieder von Papst Franziskus angesichts der „Erosion des Glaubens“ in Deutschland): „Wir brauchen mehr missionarische Aktivität!“ Dieses Rezept verkennt die Tiefe des aktuellen Wandels. Das ist aus meiner Sicht Aktionismus, der allenfalls „Angsttriebe“ hervorbringt.
Wer soll denn in der Breite missionarisch aktiv werden? Die, deren Glaube weithin fraglich und brüchig geworden ist?
Mit welcher Botschaft soll denn geworben werden? Mit der, die schon seit vielen Jahrzehnten immer weniger Menschen überzeugt?
Wer soll denn geworben werden? Die Menschen, die abnehmendes Interesse an Kontakt mir einer Kirche haben und noch immer eher kritisch distanziert als neugierig auf die Kirchen mit ihrer oft nicht überzeugenden Geschichte schauen und die sich noch immer (zurecht!) gegen die noch nicht lange zurückliegende Bevormundung durch die Kirchen wehren?
Ja, authentisch weiterzusagen wovon das eigene Herz erfüllt ist, ist und bleibt ein wichtiger christlicher Grundimpuls. An der Sendung („missio“) Gottes teilzunehmen und liebevoll und dienend bei den Menschen zu sein bleibt eine grundlegende Dimension christlich-kirchlichen Handelns. Aber als Rezept zur Krisenbewältigung ist das ungeeignet.
Jesus verwendete gerne Bilder aus der Natur. Mich hat vor kurzem ein SWR1-Leute-Gespräch mit dem Gärtner René Wadas angesprochen. Am Ende wurde er gefragt, ob der Klimawandel nicht zu einer völligen Veränderung in unseren Gärten führen würde, zum Untergehen mancher Pflanzen, die durch andere ersetzt werden müssten. Palmen und Oliven statt unserer bisherigen Büsche und Bäume? Mich überraschte seine Antwort: „Ich glaube, dass die Pflanzen sich daran gewöhnen können.“ Unsere Aufgabe sei, sie zu unterstützen, dass sie durch diese Zeit kämen. „Den Rest macht sowieso die Natur.“ Wir müssten vor allem dafür sorgen, dass die Wurzeln der Pflanzen wüchsen. Je tiefer sie würden, umso widerstandsfähiger würden die Pflanzen. Dafür dürften wir sie nicht so viel füttern. Dann würden sie sich stärker ausbilden und nach Nährstoffen suchen.
Eine geradezu biblische Gelassenheit! Eine Stärke des Christentums ist, dass es sich schon von Anfang an an ganz verschiedene Kulturen anpassen konnte und in sehr verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen Überzeugungskraft entfalten konnte. Noch immer werden bei Kirchens zu oft heutige Fragen zu wenig gehört und zu viele Antworten „von gestern“ gegeben. Oder mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen: Unsere säkulare Welt ist „mündig“ geworden, sie braucht keinen Gott als Arbeitshypothese oder Lückenbüßer mehr. Aufgabe der Christen ist „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit“. Dieses „Warten“ ist kein passives Abwarten. Das gärtnerische Bild vom Wurzelwachstum illustriert meines Erachtens sehr schön Bonhoeffers „Warten“. Es ist Vertiefung, Suche nach Nährstoffen. Es erfordert den Mut, sich infrage stellen zu lassen, selbst echte Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen.
Die neuen Antworten haben mit der „DNA“ des Christentums, mit der biblischen Überlieferung zu tun. Aber sie bestehen nicht in der einfachen Rezitation der Bibel oder in der Wiederholung alter Antworten auf alte Fragen.
Also: Nicht aktionistische Angsttriebe, sondern aktiv wartende Wurzel-Bildung ist „dran“. Wo Christen in Christus verwurzelte Zeitgenossen geworden sind, werden Menschen neu ins Fragen kommen.